
Vikunja (Lama vicugna) - Sturmerprobtes Kamel der Anden
Kamele in den südamerikanischen Anden? Das klingt zunächst einmal ziemlich überraschend. Wenn wir an Kamele denken, dann fallen uns das Einhöckrige Kamel oder Dromedar (Camelus dromedarius) und das Zweihöckrige Kamel oder Trampeltier (Camelus ferus) aus den Wüstengebieten Afrikas und Asiens ein. Diese beiden auch als Großkamele bezeichneten Arten haben aber nahe Verwandte in Südamerika - die Lamas oder Neuweltkamele. Auch in dieser Gruppe gibt es nur zwei Arten: das Guanako (Lama guanacoë), Wildform der Haustiere Lama und Alpaka, und das kleinere und zierlichere Vikunja (Lama vicugna). Mit einer Länge von 1,5 m, einer Schulterhöhe von knapp einem Meter und einem Gewicht von maximal 55 kg ist es die kleinste lebende Kamelart. Von den Großkamelen unterscheiden sich die Neuweltkamele, abgesehen von ihrer Größe, noch in weiteren Merkmalen: Unter anderem besitzen sie keine Fettspeicher in Form von Höckern und können nicht sehr lange ohne Wasser auskommen. Ihre Hufe sind schmaler und härter als die von Dromedar und Trampeltier. Dies hängt unmittelbar mit den Lebensräumen zusammen, die beide Gruppen bewohnen. Im Sand der Wüsten und Halbwüsten benötigen Großkamele breite, weiche Laufflächen, die das Gehen auf dem weichen Boden erleichtern und ein Einsinken verhindern. Die Lauffläche von Großkamelfüßen ist mit einer Bindegewebsschicht gepolstert, die den Kamelen auch den Namen Schwielensohler eingebracht hat. Vikunja und Guanako bewohnen aber Hochebenen der Anden mit relativ steinigen Böden - hier sind nicht breite, gepolsterte, sondern schmale und harte Hufe gefragt. Das Fell der Vikunjas ist gelblich bis rötlichbraun - Bauch, Brust, Flanken und die Innenseiten der Beine sind weißlich. Ihr Hals ist ziemlich lang und dünn, der Kopf groß und rundlich mit einer kurzen Schnauze. Die Ohren sind lang und die Augen sehr groß. Augen und Ohren sind auch die Hauptsinnesorgane der ständig wachsamen Vikunjas.
Das Gebiet, das Vikunjas bewohnen, das sogenannte Altiplano, ist ein trockener, kalter Gebirgslebensraum in 3700 bis 5500 Meter Höhe, oberhalb der Baum- und unterhalb der Schneegrenze. Es ist eine ebene, allenfalls etwas hügelige Graslandschaft, die oft von heftigen Stürmen heimgesucht wird. Es regnet wenig im Altiplano, dennoch ist Wasser vorhanden - eine Grundvoraussetzung für das Vorkommen von Vikunjas. Es entsteht durch den Niederschlag nächtlicher Nebel. Durch die Höhenlage des Altiplano ist der Sauerstoffdruck sehr gering. Vikunjas benötigen daher ein sehr effektives Herzkreislaufsystem, um ihre Körperzellen mit Sauerstoff versorgen zu können. Ihr Herz ist etwa 50% größer als das von Säugetieren vergleichbarer Größe und auch ihre roten Blutkörperchen weisen Besonderheiten auf. Vikunjas ernähren sich von den Gräsern, die dem Altiplano seinen Charakter verleihen. Durch das Abweiden der harten Kost werden die Schneidezähne stark abgenutzt, wachsen aber ständig nach - eine weitere Besonderheit der Vikunjas. Alle Kamele käuen wieder, ohne jedoch zur systematischen Gruppe der Wiederkäuer zu gehören. Beide Gruppen haben das Wiederkäuen unabhängig voneinander entwickelt, um die energiearme Grasnahrung besser verwerten zu können. Vikunjas leben in Familiengruppen mit fünf bis zwanzig Mitgliedern. Es gibt aber auch Gruppen, die nur aus männlichen Tieren bestehen, sowie einzelgängerische Hengste. Die Familiengruppe wird durch einen Hengst dominiert. Er hält sich für gewöhnlich etwas abseits von seinem Harem und den Jungtieren auf. Eine Familiengruppe ist territorial und markiert ihr Revier durch gemeinsame Kotstellen. Dringen fremde Vikunjas in das Territorium ein, werden sie vom Hengst angegriffen und meistens vertrieben. Es kann aber auch dazu kommen, dass sich ein fremder Hengst als stärker erweist und das Revier und den Harem übernimmt. Die weit entwickelten Jungtiere werden nach einer langen Tragzeit von fast einem Jahr geboren. Die Zeit, die sie in der Familiengruppe verbringen dürfen, ist relativ kurz; junge Männchen werden schon im Alter von vier bis neun Monaten vertrieben, während junge Weibchen fast ein Jahr lang in der Gruppe bleiben dürfen. Vikunjas werden bis zu 20 Jahre alt.
Das Verhältnis der Menschen zum Vikunja war und ist sehr vielfältig. Während es von manchen Indianerstämmen der Anden als heiliges Tier verehrt wurde, war es für andere Stämme eine begehrte Jagdbeute. Schon zur Zeit der Inkas spielte die Nutzung der Wolle der Vikunjas eine große Rolle. Auch die spanischen Eroberer schätzten die Wolle. Solange die Tiere gefangen, geschoren und dann wieder freigelassen wurden, waren die Bestände der Vikunjas nicht in Gefahr. Wegen ihres Felles wurden die Tiere aber auch erlegt, und so verringerte sich die Zahl der Vikunjas ständig. Der Staatengründer und Befreier Perus, Simón Bolívar, erließ bereits 1825 ein Gesetz zum Schutz der Vikunjas. So wurde das kleine Andenkamel zu einem Symboltier in Peru. Trotz aller Schutzbemühungen, wie der Einrichtung von Nationalparks, gilt das Vikunja heute als gefährdet. Werden die Anstrengungen zu seiner Erhaltung aber konsequent weitergeführt, hat das Vikunja gute Chancen, auch weiterhin in seiner rauhen Heimat zu leben.
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