
Gänsegeier (Gyps fulvus) - Opfer der industriellen Landwirtschaft
Schon seit längerer Zeit stehen die industriellen Produktionsformen unserer heutigen Landwirtschaft in der Kritik. Neben ethischen Fragen, die die Massentierhaltung aufwirft, fokussiert die aktuelle Diskussion vor allem auf konkrete Gefahren für den Menschen, wie BSE, oder die Maßnahmen, die zu ergreifen sind, wenn wirtschaftlicher Schaden droht, wie im Falle der Maul- und Klauenseuche. Andere Auswirkungen der industriellen Organisation der Landwirtschaft werden hingegen gar nicht oder nur am Rande wahrgenommen. So wird vielfach übersehen, dass nicht nur "Nutztiere", sondern auch Wildtiere von den Veränderungen der landwirtschaftlichen Produktionsformen betroffen sind. Der Gänsegeier ist eine dieser Wildtierarten, denen durch das Verschwinden der traditionellen Form der Landwirtschaft in den Kulturlandschaften Europas die Lebensgrundlage entzogen wurde.
Natürlich bot auch die traditionelle Weideviehhaltung nur eine Art "Ersatz-Lebensgrundlage" für den Gänsegeier; es gab ihn ja schließlich schon lange bevor Menschen sesshaft wurden und begannen, Landwirtschaft zu betreiben und Haustiere zu halten. Gänsegeier ernähren sich von Großtierkadavern, ursprünglich vor allem von dem, was Wölfe, Bären und andere große Beutegreifer übrig ließen. Im Gegensatz zu den Neuweltgeiern Amerikas, wie den Kondoren, die sich auch geruchlich orientieren, verlassen sich Altweltgeier, wie der Gänsegeier, ganz auf ihren guten Sehsinn. Sie sind in der Lage, in großen Höhen segelnd, das Verhalten eines jagenden Wolfsrudels zu interpretieren und abzuschätzen, wann und wo mit Nahrung zu rechnen ist. Aber jagende Wolfsrudel und Bären gibt es in den europäischen Kulturlandschaften schon lange nicht mehr, und so mussten sich Gänsegeier an andere Nahrungsquellen halten. In Waldgebieten verendete Tiere kamen nicht in Frage, da sie aus der Luft nur schwer auszumachen sind. Günstiger ist offenes Gelände und hier bot die Weideviehhaltung eine gute Ausweichmöglichkeit. Auf den Weiden verendeten immer mal wieder Tiere, die nicht sofort entfernt oder in weniger zugänglichen Gebieten erst gar nicht entdeckt wurden. Sie waren ein gefundenes Fressen für die Geier, die mithalfen, die Viehbestände der Bauern gesund zu erhalten, indem sie der Ausbreitung von Krankheitserregern vorbeugten. Diese traditionelle Art der Viehhaltung gehört in den meisten Gegenden Europas heute allerdings der Vergangenheit an. Die Tiere sind zum größten Teil während des gesamten Jahres in überdachten Anlagen untergebracht, und wo Vieh noch unter freiem Himmel gehalten wird, da bleibt kaum ein verendetes Tier so lange liegen, dass es Geiern als Nahrung dienen könnte. So finden der Gänsegeier und andere Geierarten infolge der Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktionsform nicht mehr genügend Nahrung, um sich dauerhaft in unseren Kulturlandschaften aufhalten zu können. Hinzu kommt, dass Geier lange Zeit als Schädlinge verfolgt wurden, obwohl sie für den Menschen von großem Nutzen waren.
Das Verbreitungsgebiet des Gänsegeiers erstreckt sich von Nordafrika über die Iberische Halbinsel und das übrige südliche Europa ostwärts bis nach Indien. Aus den erwähnten Gründen weist es aber in Europa große Lücken auf. Der Gänsegeier ist als Art zwar nicht bedroht, inzwischen aber aus vielen seiner früheren Brutgebiete verschwunden. Gänsegeier bewohnen offene, vor allem gebirgige Landschaften. Sie sind gesellige Felsenbrüter, die unter idealen Bedingungen in großen Kolonien vorkommen und nisten. Ein Paar bebrütet in der Regel nur ein Ei, ganz selten zwei. Das Küken entwickelt sich langsam und ein junger Gänsegeier wird erst im Alter von vier bis sieben Jahren geschlechtsreif. Die geringe Fortpflanzungsrate wird dadurch ausgeglichen, dass Gänsegeier sehr alt werden. In ihrem fast 40 Jahre währendem Leben sorgen sie dort, wo sie gute Lebensbedingungen vorfinden, für viele Bruten.
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